Mit dem „Holländer“ zur Olympiade 1972

Adolf Kratzer aus Sandweier „ruderte“ mit seinem Vierrad in zwei Wochen nach München

 SANDWEIER. Mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern in der Stunde rollte gestern ein seltsames Gefährt über die Bundesstraße 3 in Richtung Sandweier. In gleichmäßigem Rhythmus wippten die Arme des Fahrers nach vorne und wieder, zurück. Gelegentlich hob er die linke Hand, um den Autofahrern, die ihn hupend begrüßten, zu danken. Nach den letzten hundert Metern bog er dann mit seinem Vierrad in die Gemeinde ein. Unter der weißen Schirmmütze strählte nun ein von Wind und Wetter braungegerbtes Gesicht. Er hatte es geschafft. Rudolf Kratzer war nach einer rund zweimonatigen Fahrt auf einem Prototyp eines sogenannten Holländers wieder in seiner Heimatgemeinde angelangt:

Adolf Kratzers Vehikel wird mit Muskelkraft angetrieben. Es handelt sich nämlich um einen sogenannten Holländer, der sich nach Draisenmanier fortbewegen läßt. Da sich der 61jährige nicht mehr auf die Kraft seines rechten Beines, er ist gehbehindert, verlassen kann, ist der gelernte Schneider auf die Armmuskulatur ausgewichen.

Ein Zeichner fertigte ihm die Detailpläne an, ein Schlosser in seiner Heimatgemeinde baute das Gefährt, und damit machte sich Adolf Kratzer am 17. August auf den Weg nach München zu den Olympischen Spielen. Kratzer, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, daß er in Baden-Baden als Blumenbote tätig ist, „ruderte“ über Freudenstadt, durch das Murgtal über Landsberg zwei Wochen lang bergauf – bergab und erreichte schließlich am 30. August München.

„Dort bekam ich ein ideales Quartier vom Erzbischöflichen Ordinariat in München“, erzählt der Kapitän der Landstraße. „Für 6,50 DM konnte ich in einem Heim übernachten.“ Auch Eintrittskarten für die Spiele verschaffte sich der Sandweierer und war mit dabei – bei den sportlichen Wettkämpfen wie auch bei der Trauerfeier für die ermordeten Israelis.

Am Anfang machte Adolf Kratzer die ungewohnte Armarbeit zu schaffen. Trainiert hatte er für seine Tour vorher nur mit dem Expander. „Bei mehr als drei Prozent Steigung hieß es schieben“, erzählt der unternehmungslustige Olympiagast. Es war nicht seine erste Reise. 1960 bei der Olympiade in Rom war Kratzer auch schon dabei und bei der Fußball-Weltmeisterschaft in England. Damals allerdings mit dem Motorrad.

Am Dienstag war der eigenwillige Verkehrsteilnehmer in Achern eingetroffen, wo er zum vorletzten Mal übernachtete. Am Mittwoch morgen machte sich dann der fahrende Schneider wieder auf den Weg. Bevor er jedoch sein Endziel Sandweier ansteuerte, erlaubte er sich noch einen kleinen Abstecher auf den Plättig. Dort stattete er dem Zeichner, der seinen Holländer entworfen hatte, einen Besuch ab. So nahm er noch einmal – so nahe am Ziel – eine Strapaze auf sich, denn er mußte ja sein Gefährt die Schwarzwald-Hochstraße hinaufschieben.

Adolf Kratzer mit seinem "Holländer"

Zu Hause angekommen, hat er das Vierrad, mit dem er schon halb Europa kreuz und quer durchstreift hat, zwar in die Garage geschoben, doch will er es dort nicht verrosten lassen. Mit der Wippmaschine will er nämlich an den Wochenenden zu den Fußballspielen, die in der Umgebung von Sandweier stattfinden, fahren und für die Hilfsaktion Lepra-Polio sammeln.

 jw/ky

Dieses Gefährt steht auch im Heimatmuseum von Sandweier

Mit dabei, beim Jubiläumsumzug des Musikvereins 1981


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