Jan. 19 2021

Mein erstes Weihnachtsfest in Sandweier

Mein erstes Weihnachtsfest in Sandweier

Auszug aus „Der letzte Sandbauer“, S.63ff Autorin. Helga Schaum geb. Laurinat

Nach einer für mich abenteuerlichen Flucht aus Westpreußen, zu Fuß, per LKW und mit einem Torpedoboot der Kriegsmarine, landeten wir im März 1945 in Neustadt bei Kiel. Dort lebten wir, meine Mutter, meine Schwester, eine ältere Tante und ich zuerst in einer Turnhalle. Meinen Vater und alle Männer, ob jung oder älter, teils noch heranwachsende Kinder, hatte die SS (Schutzstaffel in der Zeit des Nationalsozialismus) noch in der polnischen Stadt Gotenhafen zu den Waffen geholt. Meine Schwester meldete sich freiwillig zur Hilfe im Lazarett. Durch die Vermittlung einer Krankenschwester konnten wir in eine kleine leerstehende Wohnung ziehen. In dieser blieben wir bis Kriegsende. Dann wurden wir in ein kleines Dorf bei Friedrichstadt im Kreis Nordfriesland in Schleswig- Holstein verfrachtet. Hier war das Leben alles andere als einfach. Die vielen Vertriebenen und die wenigen Einheimischen konnten nicht miteinander gut umgehen. Die Lebensmittel waren knapp und Geld hatten wir schon lange keines mehr. Um nicht zu verhungern, gingen meine Mutter und meine Schwester nachts auf die Äcker und Felder und „stibitzten“

Kartoffeln und Getreideähren, die von der Ernte liegen geblieben waren. Ich bezeichne das heute als „Mundraub“, aber wir hätten ja sonst nichts zu essen gehabt.

Unsere katastrophale Situation änderte sich erst als mein Vater nach acht-monatiger Gefangenschaft in Russland im Februar 1946 zurück nach Hause kam.

Im Jahr 1949 nahmen meine Eltern die Möglichkeit der Umsiedlung nach Rastatt und Umgebung wahr. Mein Vater kannte Rastatt aus dem Ersten Weltkrieg, da er nach einem Lungensteckschuss im französischen Verdun in einem Lazarett in Rastatt behandelt worden war. Nach drei Tagen in einem Auffanglager im dortigen Schloss fuhren wir am 24. November 1949 in einem offenen LKW in Sandweier ein, beladen mit Eisenbetten, Strohmatratzen, Decken aus Armeebeständen, Blechgeschirr und Besteck sowie den wenigen Kleidern und der Wäsche, die meine Eltern beschaffen konnten und auch selbst genäht hatten. Nach Jahren der Entbehrungen durfte ich am nächsten Tag mit meiner Mutter einkaufen gehen. Im Geschäft der Familie Guido Müller in der Hauptstraße wurden wir freundlich bedient und meine Mutter kaufte mir noch eine kleine Tüte Bonbons. Frau Müller fragte, ob ein besonderer Anlass dafür wäre, denn Süßigkeiten waren damals

noch keine Selbstverständlichkeit. „Ich habe heute Geburtstag“, sagte ich. „Oh, da gratuliere ich dir aber herzlich“, antwortete Frau Müller und schenkte mir eine Tafel Schokolade. Das war ein wunderschönes Geschenk für mich und meine Mutter war ganz gerührt über so viel Freundlichkeit. Das waren wir seit langer Zeit nicht mehr gewohnt.

Nun stand Weihnachten vor der Tür. Am Heiligen Abend waren wir bedrückt und traurig. Meine Schwester hatte in Schleswig-Holstein geheiratet und hatte nicht die Möglichkeit, uns zu besuchen. Wir hatten auch keinen Weihnachtsbaum. Doch irgendwie hatten meine Eltern eine Gans gekauft, so dass wir wenigstens einen Weihnachtsbraten hatten wie früher in Westpreußen.

Als nach dem Essen jedes Familienmitglied so seinen eigenen Gedanken nachhing, erklang im Treppenhaus Weihnachtsgesang. Wir öffneten die Wohnungstür – und was wir dann erlebten, trieb meinen Eltern die Tränen in die Augen.

Im Flur standen junge Mädchen mit einem kleinen geschmückten Bäumchen, einem Wäschekorb voller Porzellangeschirr, Kochtöpfen, einer Bratpfanne und Weihnachtsgebäck und sangen für uns die schönsten Weihnachtslieder. Nachdem sich meine Eltern wieder gefasst hatten, bedankten sie sich herzlich für die schönen Geschenke und die Anteilnahme an unserer Situation. So wurde es doch noch ein schönes Weihnachtsfest.

Die Idee, diese Geschichte aufzuschreiben, kam mir beim letzten Seniorennachmittag.

Ein Flüchtlingsproblem haben wir wieder, wenn auch in anderer Form. Auch wir waren damals auf fremde Hilfe, Anteilnahme und Solidarität angewiesen. Gott sei Dank wurde uns diese zuteil. Aber es gab auch zu jener Zeit die Uneinsichtigen.

Wenn ich heute nach meiner Heimat gefragt werde, antworte ich mit großer Überzeugung:

Natürlich „SANDWEIER – IM BADISCHEN LÄNDLE“!!!!